Liebe Freundinnen und Freunde der Schader-Stiftung,
vielen Dank, dass ich hier reden darf. Ich nutze diese Gelegenheit, um einen Gedanken zu bewegen, den ich noch nicht zu Ende gedacht habe, von dem ich gleichwohl denke, dass wir uns kulturell mit ihm auseinandersetzen sollten – als Gesellschaft und inmitten der historischen Situation, in der wir uns befinden. Er hebt an mit der Frage, wo der systematische Ort der Endlichkeit in unserem gesellschaftlich Imaginären »der Wirtschaft« ist.
Das hat mit Zeit zu tun; und zwar als Weltverhältnis. Als Art und Weise, wie wir das, was ist, ordnen, begreifen, verfehlen. »Die Zeit« bedeutet kein neutrales Medium. Sie ist eine kulturelle Konstruktion, ein sowohl strukturiertes als auch strukturierendes Moment und Ausdruck dessen, was wir über Leben, Zukunft und Erfolg zu wissen glauben. Und so stellt sich mir anlässlich dieser Veranstaltung die Frage, ob die zeitliche Logik unserer Wirtschaft mit einer nachhaltigen Entwicklung und dem damit verbundenen Anspruch nach raum-zeitlicher Übertragbarkeit vereinbar ist. Oder ob sie nicht vielmehr das Denken selbst deformiert, bis es, wie ich es einmal genannt habe, »abtötend« wirkt – weil es das Nährende auf Nutzen, das Werdende auf Wachstum, das Endliche auf Effizienz reduziert.
Die moderne Wirtschaft ist ein Projekt der Kolonisierung der Zukunft. Sie produziert ihre Zeit als Vorgriff. Verloren geht das Gespür für die Gestaltbarkeit der gegenwärtigen Zukunft, weil die zukünftige Gegenwart prognostiziert, modelliert, geplant wird. Dieser anthropozentrische Steuerungsoptimismus organisiert sich über Kennzahlen und Regressionsanalysen, die Vergangenes in die Zukunft zu verlängern suchen. Gegenwart bläht sich auf, »rasender Stillstand« (Virilio) entsteht. In ihm steckt eine tiefe Angst unserer Gesellschaft – die Angst vor Kontingenz, vor Unverfügbarkeit, vor Endlichkeit.
Doch macht Lebendigkeit genau das aus. Wer lebt, stört. Das Lebendige ist widersprüchlich, verletzlich, endlich, eigensinnig, undurchdringbar. Es entzieht sich der Steuerung. Und genau darin liegt seine Würde. Wenn ich in die Wirtschaftstheorie der Gegenwart blicke, sehe ich lineares Denken: Fortschritt als Gerade, Wachstum als Zwang, Zeit als Ressource. Das ist die monochrone Zeitkultur der Gegenwart, die sich selbst diszipliniert. In ihr hat alles seinen Platz, seine Deadline, seinen Zweck. Das Lebendige jedoch folgt keinem Takt, sondern einem Rhythmus. Es kennt Wiederkehr, Wandel, Erneuerung, Ruhe. Zyklische Zeitmodelle – wie sie etwa in der Idee der Kreislaufwirtschaft anklingen – versuchen, diesen Rhythmus zurückzuholen. Sie sprechen von Regeneration, von Wiederverwertung, von Schließung von Stoffkreisläufen. Und doch, wenn man genauer hinsieht, bleibt auch hier das alte Steuerungsdenken wirksam. Der Kreis wird zur Formel der Effizienz, die Rezyklierung zur Verlängerung des linearen Wachstums. So wird auch die zyklische Ökonomie, vollends entfaltet, zur Perfektion der linearen: endlos, kontrollierbar, unsterblich.
Ich frage mich: Warum nur fällt es uns so schwer, Endlichkeit zuzulassen? Vielleicht, weil wir gelernt haben, das Ende mit Scheitern zu verwechseln. Ein Unternehmen, das stirbt, ist in unserer Kultur ein Versagen. Ein System, das aufhört, ein Fehler. Aber alles, was lebt, endet irgendwann. Wir haben eine Idee von Wirtschaft kultiviert, die zwar Tod und Vergehen bringt, sich selbst gleichwohl ewig zu setzen sucht. Doch dasjenige Leben, das sich ewig setzen will, wird leblos.
Ich denke – und damit komme ich zum Kern des unfertigen Gedankens –, wir müssen lernen, die Endlichkeit ökonomischer Organisationen anzunehmen; nicht als Insolvenz und Niederlage, sondern als Moment der Verantwortung, als Ruf des moralischen Subjekts. Unternehmen sind keine unsterblichen Maschinen. Sie sind historische Gebilde. Sie entstehen, wirken, vergehen. Und weil das so ist, brauchen wir eine Kultur des Aufhörens. Eine Praxis des Loslassens. Eine Form der würdevollen Beerdigung von Unternehmen.
Das meine ich wörtlich. Vielleicht sollten wir lernen, Unternehmen zu verabschieden. Nicht als Abwickelung, sondern indem wir sie würdigen: was sie ermöglicht haben, was sie gelernt, gelebt, hervorgebracht haben. Um dann loszulassen. Und erforderlichenfalls in Trauer das Scheiden zu verarbeiten. Vielleicht macht unsere Gastgeberin den entscheidenden Punkt mit dem Tagungstitel: »Timing«, also Doing Time. Vielleicht schießt sie aber auch über das Ziel hinaus mit dem Unterzug »weil nicht alles seine Zeit hat«. Vielleicht ist gerade das der springende Punkt: Auch Unternehmen sind Kinder ihrer Zeit und fallen damit früher oder später aus ihr heraus. Die Gestrigkeit des ökonomischen Mainstreams ist nur der unausgesprochene Nachsatz jeden Rufs nach Zukunftsfähigkeit. Die sozial-ökologischen Krisen der Gegenwart widerfahren uns schließlich nicht. Wir organisieren sie. Deswegen sind sie so hartnäckig. Es sind organisierte Krisen. Wäre es da nicht naheliegend, neben Neuheit auch mal darüber zu reden, dass Manches aus der Welt muss? Kein ewiges Weiter-so, sondern ein gutes zu-Ende-Gehen. Weg von der Idee, Systeme zu erhalten. Hin zur Idee, lebendige Gesellschaften in ihrer Geschichtlichkeit zu versorgen.
In der Ökonomik, wie sie heute meist betrieben wird, läuft das Kontrastprogramm. Das Unverfügbare soll verfügbar gemacht werden; die Welt wird quantifiziert, um sie beherrschbar zu halten. Doch das Denken, das so verfährt, verwandelt Lebendigkeit in Zahl, Beziehung in Funktion, Welt in Variable. Ich nenne das die morbide Seite der Ökonomik – eine Wissenschaft, die aus Angst vor Endlichkeit ihre Seele eingebüßt hat. Was fehlt, ist das, was Hannah Arendt »amor mundi« nannte, die Liebe zur Welt, das heißt: sich in aller Ambivalenz berühren lassen von dem, was ist. Es heißt, das Denken wieder auf die Welt zu beziehen, statt es in Modellen zu versiegeln. Liebe zur Welt bedeutet ein Standpunkt, der nicht steril bleibt, sondern sich einmischt, sich selbst gefährdet, sich mit der Welt verbindet. Sie weiß: Erkenntnis ohne Zuwendung wird kalt – und Kälte tötet. Wir nennen es nur anders.
Ich habe an anderer Stelle davon gesprochen, dass wir eine erotische Ökonomik brauchen – eine Wirtschaftswissenschaft, die Nähe statt Distanz kultiviert, die Leidenschaft für das Lebendige statt Faszination für das Kalkulierbare empfindet. Erotik meint die Bejahung des Lebens – bis in den Tod. Und nur eine Ökonomik, die das Ende denken kann, verdient das Leben.
Was also tun? Eine lebendige Wirtschaft muss sich bilden dürfen. Sie braucht Phasen der Besinnung, der Reflexion, der Selbstwerdung. Produktion und Reproduktion. Und schließlich: ein Ende in Würde. Wenn Bildung zur Lebensform wird und wir lernen, Kulturen der Versorgung »wach, kenntnisreich und kritisch anzueignen« (Bieri), dann verliert vielleicht auch das gesellschaftlich Imaginäre »der Wirtschaft« die Arroganz, unsterblich sein zu wollen – und gewinnt seine Lebendigkeit zurück. Das ist, zugegeben, ein riskanter Gedanke. Doch sind wir dafür nicht hier zusammengekommen?